Evi - Zienz oder der Humus der Angstfreiheit

 Seit 14 Jahren arbeite ich jeden Herbst für eine Berliner Tanzschule. Diese Schule ist noch zu DDR-Zeiten entstanden, hat die Wende überlebt und ist, bis auf weniges, geblieben was sie war. Eine Leistung für sich wohlgemerkt. Dank dieser Tanzschule weiß ich also ein bisschen, wie sich originale DDR Kultur anfühlt und merkwürdigerweise fühlt es sich so ganz anders an als man so allgemein denkt. Als Berufsanfänger stieß ich dort auf einen beispiellosen Humus an Freiheit und Unaufgeregtheit. Perfekt zum lernen und wachsen. Und darum, genauer die Zusammensetzung dieses Humus soll es hier gehen.

 

Vor 14 Jahren, Jugendkulturzentrum Berlin Prenzlauer Berg, Tag 1. Es riecht nach Schweißfüßen. Rucksäcke überall, Turnschuhe, Socken, Hosen. Auf einem Tisch stehen Kekse, daneben zerknülltes Papier, halb ausgetrunkene Saftflaschen. Ich taumele durch diesen Raum, um erstmals in einer Drei-Generationen Tanz-Theater-Produktion Regie zu führen. Weil ich Angst habe, weiß ich kaum wo oben und unten ist. Mein einziges Ziel ist, es ich durch die Tür zu schaffen, dahin, wo die 30 Leute sind. Nicht über Schuhe und Rucksäcke stolpern, wohlmöglich noch auf Kugelschreiber treten. Kugelschreiber mit Erdbeergeruch, die einem dieser Teenager da drinnen viel bedeuten. Wie viele Kugelschreiber hab ich zerstört, aus Versehen mitgehen lassen oder verloren, weil ich vor lauter Angst und Aufregung nicht bei mir war. Ich bin ein bombastisches Tier in einem Raum voller Tücken und Gegenständen mit der Aufschrift FRAGILE. Daher bewege ich mich extrem vorsichtig. Von außen sieht das aus wie jemand, der sich extrem unter Kontrolle hat. Innerlich bin ich ein außer Kontrolle geratener Elefant im Porzellanladen, zum Scheitern verurteilt, wenn ich diesen Widerspruch nicht auflösen kann. 

 

Drei Tage später. Wir hocken auf dem Boden um den Tisch mit den Keksen, dem zerknüllten Papier und den Saftflaschen, zwischen Socken und Rucksäcken und sind mittendrin im Proben und entwickeln. Wir, das sind ein paar Teenager und ich. Einige davon gefühlt kaum jünger als ich, andere noch mit Erdbeergeruch im Rucksack. Es gibt viel zu lachen. Nur ein Kugelschreiber liegt da, auf dem Tisch, bereit, etwas aufzuschreiben. Mein Körper hat seine Proportionen zurückgewonnen. Nebenan wird an Tanz-Choreografien gearbeitet. Nebenan ist Evi. Und eins habe ich seit diesem dritten Tag nicht mehr, wenn ich für sie Arbeite: Angst. Und das ist erstaunlich, denn nur nebenbei bin ich einer der größten Angsthasen überhaupt.

 

Am Anfang hab ich endlos viel probiert, viel geredet, viel geschrieben und oft sehr komplizierte Plots ausgedacht, die wir manchmal Abende lang und in Anwesenheit unzähliger Familienmitglieder und deren Freunden diskutiert haben. Inzwischen treffen wir uns vorher ein Mal. Ein Gefühl für das Kernthema und ein paar Wendepunkte. Mehr brauch ich nicht. Damit gehe ich zur Probe. Dann bin ich nur noch dabei, wie die Jugendlichen die Szenen entwickeln. Ich schreibe nichts mehr im Vorfeld auf. Wenn etwas entstanden ist, schreiben wir mit. Das ist dann unser Textbuch. Oder es ist noch unklar, dann frag ich sie, warum sie das so gemacht haben und gehe raus. Ich verbringe inzwischen mehr Zeit auf dem Flur als im Probenraum. Was in Abwesenheit meiner Person und in Anwesenheit der Frage entsteht, ist es wesentlich mehr auf den Punkt, wesentlich gefühlt eindeutiger, wesentlich witziger. So zu arbeiten ist recht mühelos und macht viel Spaß, denn dauernd sieht man etwas, dass einen überrascht oder begeistert. Früher brauchte ich etwa 14-21 Tage Proben plus 14 Tage schreiben. Heute brauche ich nicht mehr als 6 Tage schreiben und proben. Jedes Jahr fragen wir uns, ob es im nächsten Jahr eigentlich noch kürzer geht. Das fragen wir nicht unbedingt selbstgefällig, sondern eher zerwühlt. Die Premiere ähnelt meistens einem Erdbeben. Alles wackelt. Aber nach drei Aufführungen läuft es. 400 Leute pro Abend sind keine Seltenheit. Es hat sich rumgesprochen, dass es auch Spaß macht, uns zuzuschauen. 

 

Wenn ich mir Evi vorstelle, sehe ich sie mit einem Berg Kostümen in einem Arm und ihrem Handy in der Hand auf dem Weg zwischen ihrem Auto und irgendeiner Hinterbühne wo schon dreißig Leute, zwei oder drei ihrer eigenen, inzwischen erwachsenen Kinder und fünf ihrer Enkelkinder rumwuseln. Die Kostüme sind bunt, alles an ihr ist bunt, auch die Schuhe. Das Elend, so sagt sie, begann, als alle plötzlich mit Blue Jeans rumliefen. Sie sagt das laut und deutlich, auch vor 30 Schüler_innen, denen die Kinnlade runterfällt und die sofort intuitiv entscheiden, dass diese Frau bescheuert ist, weil sie natürlich alle Jeans tragen. Als wir den Westen bekamen, sagt Evi, und sie sagt es so, wie Menschen, die seit Jahrzehnten mit einem Sofa leben dass sie grauenhaft finden. Es steht mitten im Wohnzimmer und verschandelt die ganze Wohnung. Als unsere geschmacklose Tante das Sofa brachte und dann einen Herzinfarkt bekam, darauf starb und mit Schaum vor dem Mund ihren letzten Wunsch äußerte, nämlich dass wir es immer, immer, immer behalten, das Sofa. Als wir den Westen bekamen... und dann wird das Gespräch meistens von der Titelmelodie von Miss Marple unterbrochen, denn das ist der Klingelton ihres Handys. Bei Evi ist immer was los. 

 

Wir Wessis - und ab einem bestimmten Jahrgang sind wir das alle, dafür hat die Politik der Wende nun mal gesorgt - schreiben uns ja irgendwie auf die Fahne dass es hier um Persönlichkeit geht und dass in der DDR "das Kollektiv" alles individuelle zerstört hat. Dass es drüben Uniformierung gab und hier die große Freiheit des Einzelnen. Wenn ich aber alle Leute in meinem Umfeld so sehe die noch in der DDR sozialisiert sind, dann sehe ich es anders. Um nicht zu sagen - das genaue Gegenteil ist in meinen Augen der Fall. Persönlichkeit und Eigensinn sind volle Kanne vorhanden und zwar in Echt. Persönlichkeit in Echt hat etwas unbefangenes, und unschuldiges, weil sie sein darf und nicht in Konkurrenz zu anderen Persönlichkeiten steht, weil sie verbunden ist und nicht getrennt. Wie kommt das? Hab ich mich gefragt und - wie immer vorläufig - meinen Schluss gezogen: Alle Ingredienzen der Persönlichkeit sind in Resonanz mit bestimmten gesellschaftlichen Räumen. Räume mit denen sich jemand - freiwillig oder unfreiwillig verkoppelt hat. Ja und bei dem „unfreiwillig“ wird gleich aufgeschrien, aber mal Hand auf´s Herz, über wie viele Schritte Deiner westlichen Sozialisation hast Du wirklich selbst bestimmt? Die Persönlichkeit ist auf diese sozialistische Weise ein Teil der Gemeinschaft mit einer bestimmten Aufgabe. Im Westen ist die Persönlichkeit ein Statement in Abgrenzung zu anderen. Persönlichkeit steht im Wettstreit, im Fokus, und wird nicht im Zusammenhang mit der Umgebung gesehen. Es wird einem unsichtbaren, fast mythischen Kern, dem Selbst, dem Ich zugeschrieben. 

 

Im Prinzip ist es ganz einfach. Arbeit ist Arbeit für andere und Persönlichkeit ist ein Ergebnis davon. Und nicht umgekehrt: Arbeit ist Arbeit für Dich und Persönlichkeit ist die Voraussetzung dafür. Die letztere Haltung erzeugt Angst. Die erstere Lernbereitschaft. Und so kannst Du ein Umfeld identifizieren, das den Humus der Angstfreiheit für Dich bereit hält:

·       Sätze, die mit „Du bist“ anfangen kommen nicht vor

·      Der Bezug zur Aufgabe ist klar für alle Beteiligten

·      Persönlichkeit entsteht nicht in Abgrenzung zu anderen sondern durch Verbundenheit mit der Sache

·      Persönlichkeit ist daher a priori GUT und richtig. Und ansonsten wird nicht viel Trara darum gemacht

 

Amen. So hab ich das beobachtet. Wenn Du es anders siehst oder erlebt hast, oder auch genau so, schreib mir gerne. Ich bin sehr interessiert und wünsche jede_m Berufsanfänger_in eine Umgebung, in der sie oder er diese Qualitäten erfahren kann. Denn ein´s ist Fakt, alles was Du brauchst an Humus und in Ruhe und Frieden in den Lebensabschnitt Arbeit hinein zu wachsen, steckt hier drin. Ich nenne diese Haltung, Evi zu Ehren: Evi-Zienz. In welchem System, frag ich mal noch zum Ende, steht eigentlich die Qualität der Arbeit im Mittelpunkt?

 

Nachtrag zum 2.2.021

Gestern hörte ich bei Ken Wilber, sinngemäß: die Fähigkeit, sich in eine zweite, dritte oder gar vierte Perspektive hinein zu versetzen, die nicht die eigene ist, gehört zum Prozess des "growing up". Nicht zu verwechseln mit "waking up", wofür Wilber ja in erster Linie steht. Inzwischen denke ich, dass dieser erzwungene Perspektiv-Wechsel einer der Gründe ist, warum meine Kolleg_innen aus dem ehemaligen sozialistischen Osten Deutschlands mir so reif vorkommen. Es ist nicht (allein) die Prägung durch das System, sondern vor allem, die ständige Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Auslegungen der Wirklichkeit. Dazu mehr im nächsten Text.