Imagination tut gut!

 

Imagination kommt von Imago, lateinisch: Bild. Wer sich ein Imago also Bild machen kann, der sieht Zusammenhänge. Denn ein Bild ist immer eine Komposition aus mehreren Einzelheiten, die zueinander in Beziehung stehen. Wer nicht in Bildern sehen kann, versteht die Welt nicht mehr. Wer aber nur in Bildern sieht, versteht die Welt auch nicht. Imagination ist mehr als in Bildern sehen. Wer imaginiert, tut folgendes: umrissene Details sehen. Und das große Ganze. Und die Beziehung dazwischen. Und das alles gleichzeitig. Geht das? Ja! Das, präzise, ist Imagination.

Nochmal anders ausgedrückt: Fachidioten, die nur in Einzelheiten denken können, und Ökos oder Esoterikfreaks, die ständig das große Ganze im Blick haben, müssen Hand in Hand arbeiten. Am besten auf kürzestem Wege, also innerhalb einer Person. Diese Person wäre fähig zur Imagination.

Und mit dem Holzhammer: Wer dazu nicht in der Lage ist, richtet zwangsläufig Schaden an, weil er sein Handeln nicht in Beziehung zum Ganzen setzt. Die täglichen Nachrichten sind voll von Berichten über diesen Schaden.

Also, wir brauchen Schulen für Imagination.

Womit ich beim Thema angekommen bin. Gibt es schon Schulen für Imagination? Wie könnten sie aussehen? Ich will heute einen Vorschlag in die Richtung machen, hole dafür etwas aus und bekenne mich als Fan der Waldorfpädagogik. Auch wenn ich mir dabei vorkomme, wie die Nichte, die ihre völlig schrullige Tante vor der ganzen Familie in Schutz nimmt. Diese altjüngferliche Tante, die immer in Fliederfarben gekleidet ist und nach Maiglöckchen riecht. Ich weiß dass die Tante schrullig ist, aber ich liebe sie trotzdem. Die anderen haben mich fasziniert, verwirrt, belehrt, eingeschüchtert oder ignoriert. Die Tante hat ihr rosarotes Strickzeug ausgepackt und mich seelisch satt und zufrieden gemacht. Womit? Mit lebendigen Bildern. Darum bin ich Fan der Waldorfpädagogik. Die Waldorfschule füttert die Kinder mit lebendigen Bildern. Das sind Bilder, die tauglich sind um Imaginationen hervorzubringen. Weil sie reale Beziehungen präzise auf dem Punkt bringen. Beziehungen, die lebensnotwendig sind in der Welt. Die Beziehung zwischen Sonne und Erde etwa, zwischen Fisch und Wasser, die Beziehung zwischen Mensch und Mensch in der Arbeit, im sozialen Leben und so weiter. Damit will ich sagen, dass es auch Bilder gibt, die wenig aussagen hierüber. Es ist also nicht egal, mit welchen Bildern man die Kinder füttert. Woher aber bekommt man die richtigen Bilder? Die Waldorfpädagogik bezieht ihre Bilder zum größten Teil aus der mitteleuropäischen Geistesgeschichte. Leider Gottes möchte ich ausrufen wohl wissend dass ich damit wieder im Tantenjargon rede, steht der Waldorfpädagogik damit unter anderem die Bildersprache des Christentums zur Verfügung und es gibt viele, die sich daran stören. Aber das ist ein anderes Thema. Diese guten Bilder sind komprimierte Botschaften, die sich im Laufe der Biografie erst entfalten, die sozusagen mitwachsen und keiner Erklärung bedürfen, weil sie sich, wird im Leben erst einmal die entsprechende Erfahrung gemacht, quasi von selbst enthüllen und dem Leben Sinn und Bedeutung verleihen. Die Intensität, mit der ich die Sinnhaftigkeit meines oder des Lebens erfahre und gestalte, sagt etwas aus über den Grad meiner Fähigkeit zur Imagination. Ich will dafür mal ein kleines Beispiel geben.

 

Maria durch ein Dornwald ging

 

Seit meine Tochter auf der Welt ist, denke ich öfter nach über den Ausdruck "ein Kind unter dem Herzen tragen". Als Kind habe ich ihn zum ersten Mal gehört. Und zwar in dem Lied "Maria durch ein Dornwald ging". Ein altes Weihnachtslied. Ich habe es in der Waldorfschule gehört. Beim Advenstgärtlein. Wir Kinder hatten einen dicken Apfel in der Hand, darin eine nach Bienenwachs duftende Kerze. Wenn wir dran waren, galt es, einen spiralförmigen Gang aus Tannenzweigen entlang in die Mitte zu wandern, wo wir unser kleines Licht an einem großen Licht anzünden konnten. Und dann zurück, mit der Tropfenden Kerze in der Hand. Durch die von Tannenzweigen, Bienenwachs und vielen Menschen geschwängerte Luft, im Halbdunkel des Adventsgärtleins, waberten die melancholischen Töne dieses Liedes von Maria im Dornwald. Es gab mir Rätsel auf. Und während ich mit der Tropfenden Kerze im Apfel durch das Adventsgärtlein zurück wanderte, brütete ich über diesen Rätseln. Warum sagen sie nicht "im Bauch" sondern "Unter dem Herzen". Ist da überhaupt Platz? Wo genau ist dieser Ort unter dem Herzen? Ist es da nicht zu eng für das Kind? War ich auch unter dem Herzen? Oder gilt das nur für Jesus und Maria? Wenn ja, warum hat Maria mehr Platz unter dem Herzen? Warum wuchs dann Jesus unter dem Herz von Maria, und wir anderen im Bauch? So wie ich Jesus schon zur damaligen Zeit einschätzte, hätte er keine Sonderrechte für sich in Anspruch genommen. Das wäre gegen seine Prinzipien gewesen. Gegen den großen Plan. Es blieb also Rätselhaft. Und ein bisschen fühlte ich mich ausgeschlossen, wenn Maria durch den Dornwald ging mit Jesus unter dem Herzen. Meine Fragen blieben wie zerfetzte Taschentücher im Dornengestrüpp hängen. Irgendwie störend. Sie passten nicht ins Bild. Und dabei blieb es. Das Dornengestrüpp, meine Fragen und Maria mit dem Kind unter dem Herz, das sank irgendwo auf den Grund meines Bewusstseins. Zum Glück - sage ich Heute. Denn hätte ich irgendeinen Erwachsenen gefragt, und irgendeine Erklärung erhalten, ich wäre fertig gewesen mit der Sache, meine Enttäuschung wäre geblieben und die eigentliche Sache, die in dem Bild steckt, hätte ich verpasst. Diese ging mir dann Jahrzehnte später erst auf. Wie das berühmte Samenkorn, von dem die Waldorfpädagogik spricht. Als ich nämlich selbst schwanger war. Da bekommt man ja die vielfältigsten Empfehlungen und Ratschläge. Unter anderem heißt es, ob man denn schon kommuniziere mit dem Ungeborenen. Ich halte das prinzipiell für Blödsinn. Man kommuniziert noch früh genug mit seinem Kind. Und es hat im Bauch besseres zu tun, als mit der Mama zu plaudern. Trotzdem habe ich es, neugierig wie ich bin, versucht, mich da ranzutasten. Und dabei habe ich etwas herausgefunden. Nämlich wo die Beziehung zwischen mir und meiner Tochter entspringt. Sie entspringt wortwörtlich unter dem Herzen. Sie strampelt und gluckst und jauchzt, wie ein kleines Kindlein. Und tollt und rennt und will ins Leben hinaus. Einfach das pure Glück. Mitten im Dornengestrüpp der Biografie. Unabhängig von den Launen des Alltags. Die Kommunikation mit dem Ungeborenen funktioniert also nicht nach dem Sender - Empfänger Prinzip. Und wer das probiert, geht seinem Kind mit Sicherheit auf den Keks. Sondern sie ist schon da, bevor man überhaupt anfangen kann zu quasseln. Man kann sie erspüren. Und dann verwandelt sie uralte Bilder zurück in sprudelnde Leben. Unter dem Herzen. Und was ist mit den zerfetzten Taschentüchern im Dornengestrüpp? Na das waren doch die Röslein. Nicht die fetten, roten, sondern die zarten, weißen Heckenröslein, die beim kleinsten Windstoß davon gepustet werden.